Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 04.09.2019

Bilanz nach Frauenstreik

Vor drei Monaten demonstrierten Hunderttausende für die Gleichstellung

Über 500 000 Menschen gingen in der Schweiz am 14. Juni auf die Strasse, um für die Gleichstellung von Frau und Mann zu demonstrieren. Auch in Frauenfeld haben sich an diesem Tag rund 250 Personen versammelt und übergaben dem Regierungsrat ihre Forderungen. Wie ist die Bilanz drei Monate nach dem Grossaufmarsch?

 

 

Der Frauenstreiktag hat in vielen Städten für die grössten Demonstrationen seit Jahrzehnten gesorgt. Lautstark setzten sich die Demonstranten für ihre Anliegen ein – für faire Löhne und für bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gegen Diskriminierung und gegen Sexismus. Auch 2019, 28 Jahre nach dem ersten Frauenstreik von 1991, sind diese Forderungen noch hochaktuell: Frauen erledigen zwei Drittel der unbezahlten Arbeit und verdienen durschnittlich rund 20 Prozent weniger als Männer. Noch immer steuern Väter meistens das Haupteinkommen der Familie bei und verbringen im Schnitt weniger Zeit mit ihren Kindern und mit Hausarbeit als die Mütter.

Streik der Thurgauerinnen
Genau diese Missverhältnisse prangerten auch die Teilnehmenden am Frauenstreik in Frauenfeld an. Den Streik organisiert hatte die Thurgauer Frauenzentrale zusammen mit dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). Deren Vertreterinnen übergaben Regierungsrat Jakob Stark ihre Forderungen. Diese beinhalteten unter anderem die Unterzeichnung der Lohncharta, die Lohngleichheit im öffentlichen Sektor gewährleisten soll, die Förderung der Gleichstellung in der kantonalen Verwaltung sowie die Förderung von bezahlbaren Kinderbetreuungseinrichtungen, Vaterschaftsurlaub und Teilzeitarbeit.

Frauenfelder Politikerinnen setzen sich ein
Auch Barbara Dätwyler Weber, Frauenfelder SP-Stadträtin und Präsidentin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) der Ostschweiz, machte sich am Frauenstreik-tag stark für diese Anliegen. Sie hofft, dass der Regierungsrat die Lohncharta unterzeichnet und mehr Vaterschafts- oder Erziehungsurlaub gewährt. Als Vorsteherin des Departements für Gesellschaft und Soziales im Stadtrat hat sie ein besonderes Augenmerk auf die Bedürfnisse der Frauen. Sie befürwortet auch eine Frauenquote in Kaderpositionen, «denn anders geht es scheinbar nicht».
Diesen Punkt sieht die Frauenfelder Gemeinderatspräsidentin Severine Hänni (SVP) anders. Eine Frauenquote unterstützt sie nicht: «Jede Person sollte anhand ihrer Leistungen beurteilt werden, unabhängig vom Geschlecht.» Das Thema Gleichstellung liegt ihr aber am Herzen: «Als fünfte Frau in Folge als Präsidentin liefere ich ein gutes Beispiel, dass wir Frauen diese Position genauso gut einnehmen können. Ein solches Engagement hilft, dass Frauen und Männer in der Politik als gleichwertig angesehen werden.»
Ebenso setzt CH-Gemeinderätin Salome Scheiben auf mehr Frauen in der Politik – «mit mehr Frauen werden die Forderungen der Frauen einen höheren Stellenwert haben und damit auch umgesetzt», hofft sie. Salome Scheiben sieht vor allem die nationale Politik gefordert, wenn es um die Gleichstellung geht – so etwa bezüglich der gesetzlichen Verankerung eines Vaterschaftsurlaubs. Sie erwartet aber auch vom Kanton, dass er sich für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzt.

Regierungsrat reagiert
Der Ball liegt also bei der Politik, auf die Forderungen des Frauenstreiks einzugehen. Letzte Woche veröffentlichte der Regierungsrat Stellungnahmen zu den Forderungen des Frauenstreiks (siehe Seite 19), darunter auch die Ant-wort auf eine Einfache Anfrage von Edith Wohlfender, Geschäftsführerin des SBK. Darin gesteht der Regierungsrat ein, dass de facto in gewissen Bereichen eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau bestehe, «diese gilt es zu beseitigen». Darum nimmt er das Thema Gleichstellung in die Regierungsrichtlinien 2020 bis 2024 auf, die aktuell ausgearbeitet würden. Gleichzeitig lehnt es der Regierungsrat ab, mit den Vertreterinnen des Frauenstreiks an einem «runden Tisch» Gespräche zu führen. Die Diskussion habe im Grossen Rat stattzufinden.
Die Verantwortung für die Umsetzung der Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen sieht der Regierungsrat bei den Unternehmen; in der kantonalen Verwaltung sei bei der letzten Erfassung ein Lohnunterschied von 2,8 Prozent festgestellt worden, dennoch seien weitere Anstrengungen zu unternehmen, um Lohnunterschiede zu eliminieren. Die Lohncharta sieht der Regierungsrat deckungsgleich mit geltendem Recht und verzichtet auf eine Unterzeichnung.
Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern, erachtet der Regierungsrat den Vaterschaftsurlaub als taugliches Instrument. Diesbezüglich verweist er auf die hängige Initiative «Für einen Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der ganzen Familie». Der Regierungsrat hat sich hier für den ständerätlichen Gegenvorschlag von zwei Wochen Vaterschaftsurlaub ausgesprochen.

Noch nicht auf dem Mount Everest
Edith Wohlfender begrüsst, dass der Regierungsrat Massnahmen zur Gleichstellung von Mann und Frau ergreifen will. Ihr Fazit: «Der Frauenstreik war wichtig, damit Politik und Gesellschaft sich bewusst werden, dass trotz Gleichstellungsgesetz die Gleichstellung von Frau und Mann noch lange nicht Realität ist. Dies hat der Regierungsrat Jakob Stark in seiner Rede am 14. Juni vor den Frauen auch so geäussert.» Damit nimmt sie Bezug auf die Aussage von Regierungsrat Jakob Stark, die Frauen seien jetzt auf dem Basiscamp und es brauche noch etwas Geduld, bis sie auf dem Mount Everest ankommen können. Wie lange der Aufstieg noch dauert, ist weiterhin nicht absehbar.

Miriam Waldvogel




Plattformen für Frauenanliegen

Federführend am Frauenfelder Frauenstreik waren die Frauenzentrale Thurgau und der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK).
Die Frauenzentrale veranstaltet regelmässig Anlässe zu Frauenthemen (siehe Seite 29) und führt die Infostelle Frau+Arbeit. Dort erhalten Frauen Beratung rund um die Themen Arbeit und Gleichstellung, beispielsweise zu arbeitsrechtlichen Fragen im Schwangerschafts- oder Krankheitsfall. Um das bestehende Beratungsangebot wie bis anhin anbieten zu können, benötigt die Frauenzentrale finanzielle Unterstützung. Weitere Informationen unter www.frauundarbeit.ch
Der SBK setzt sich ein für die Position der Pflegefachpersonen und unterstützt seine Mitglieder in ihrer beruflichen Tätigkeit und Entwicklung. Auch der SBK berät Berufsfrauen in der Pflege in arbeitsrechtlichen Fragen. (mw)